Festrede von Prof. Dr. Lutz Thieme

Festrede von Prof. Dr. Lutz Thieme


Festrede 175 Jahre TV 1848 Oberstein, Prof. Dr. Lutz Thieme

Freitag, 06.10.2023, Stadttheater Idar-Oberstein

 

Liebe Frau Kannengießer,

liebe Frau Schneider,

liebe Frau Welte,

lieber Frau Sauer,

lieber Herr Frühauf,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

liebe Festgäste,

 

als mich Bernd Pohl vor mehr als einem Jahr fragte, ob ich nicht den Festvortrag zum 175jährigen Gründungsjubiläum der TV 1848 Oberstein e.V. halten könnte, habe ich auch deshalb zugesagt, weil ich Bernd Pohl sehr schätze und es ja noch ganz viel Zeit war, bis die Rede zu halten war.

Aber wie es auch oft mit Weihnachten ist: Überraschenderweise kam der Festtag schneller als gedacht. Statt Geschenke musste also eine Festrede her. Nun verdienen Hochschullehrer ja ihr Geld mit Reden. Mit klugen Reden. Mit Reden, die auch etwas unverständlich sein müssen, damit sie als gehaltvoll und als intellektuell gelten können.

In der Regel kommt die Rede des Wissenschaftlers nach den Grußworten und Ansprachen der Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. Nicht selten steht die Rede des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin als letzte Hürde vor der Eröffnung des Buffetts vor den Festgästen. Manchmal lädt man Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler auch dazu ein, Dinge anzusprechen, die man nicht selbst ansprechen möchte; quasi als moderne Variante des Hofnarren.

Heute ist aber manches anders: Ich soll eine Festrede und keinen wissenschaftlichen Vortrag halten und die Ansprachen der Honoratioren folgen erst noch. Man muss mir also zuhören. Das bin ich aus Vorlesungen, Weiterbildungen oder aus Meetings nicht unbedingt gewohnt. Es ist also eine ungewöhnliche Situation für mich.

Ungewöhnliche Anforderungen stellt auch das Format „Festvortrag“. Was ist angemessen, um bei einem Fest vorgetragen zu werden? Wie wird man einem Sportverein und seinen Menschen gerecht, die seit 175 Jahren mit Oberstein, mit Idar-Oberstein und mit der ganzen Region eng verbunden sind, diese Heimat geprägt und Heimat gegeben haben?

Ihre Chronik erwähnt an einigen Stellen, dass es Menschen waren, die aus anderen Gegenden zuwanderten, sich im Verein engagierten und dort und darüber hinaus ihre Spuren hinterließen. Peter Drey, der maßgeblich an der Vereinsgründung 1848 beteiligt war, wanderte aus Mühlheim am Main ein. Weil er sich im September 1848 am Volksaufstand in Frankfurt am Main beteiligt hatte, wurde er inhaftiert und verlor infolge dessen seine Arbeit, wurde jedoch daraufhin von Mitgliedern von Turnvereinen aus Oberstein, aus Idar und aus Bad Kreuznach unterstützt.

Nimmt man noch die 1857 aus dem Verein heraus gegründete Turnerfeuerwehr sowie die Gründung und Herausgabe des Nahethal-Boten im Jahre 1864 hinzu, dann hat man bereits viele Elemente zusammen, die auch heute noch einen modernen Sportverein ausmachen:

·        Menschen mit offenen Armen empfangen

·        Solidarität

·        unruhigen Geistern einen Ort zum Ausprobieren geben

·        gesellschaftliche Herausforderungen erkennen und dafür Lösungen entwickeln

·        die Herzen der Menschen, mit zeitgemäßen Kommunikationsmitteln und Techniken gewinnen und

·        die Kommune entlasten, so lange es irgendwie machbar ist.

Wenn Sie jetzt mit der Stirn runzeln, auf die Uhr schauen und rechnen, wieviele Jahre der Vereinsentwicklung ich in welcher Redezeit geschafft habe und hochrechnen, wann ich bei gleichem Tempo wohl fertig wäre, dann kann ich Sie beruhigen: Ich habe deshalb so viel Zeit auf die Anfangsjahre verwendet, weil ich der Überzeugung bin, dass die Gründerjahre eines Sportvereins maßgeblich dessen DNA, seine Vereinskultur prägen. Die langen Linien der Vereinsentwicklung werden in den ersten Jahren des Vereins angelegt. Später ist es ungleich schwieriger, Sportvereine zu prägen oder gar umzukrempeln. Sportvereine suchen sich ihre Mitglieder und die Mitglieder, die bleiben, prägen den Verein und entwickeln ihn weiter.

Vor dem Hintergrund, was Ihrem Verein bei Gründung in die Wiege gelegt wurde, erstaunt es nicht, dass ziemlich schnell der Wunsch nach einer eigenen Sportstätte im Raum stand. Dienten am Anfang die Säle der damals zahlreich vorhandenen Gaststätten als Übungsräume, so versprach eine eigene Sportstätte zum zentralen Mittelpunkt des Vereinslebens zu werden. 1881 war es dann so weit, die erste Turnhalle des Vereins hier an der Wilhelmstraße wurde eingeweiht. Von der Gründung 1848 bis dahin waren 33 Jahre vergangen. Mit Gustav Schleich hatte der TV 1848 Oberstein damals seinen vierten Vorsitzenden. Bis heute sind 17 weitere hinzu gekommen, wobei Albert Robinson drei Mal gewählt wurde und zwischen 1908 und 1944 insgesamt 24 Jahre Vorsitzender war. Wie es sich für einen Turnverein gehört, der sich schon vor 125 Jahren dem Frauenturnen geöffnet hatte, sind die letzten beiden Vorsitzende Frauen. Im aktuellen Vorstand findet sich eine paritätische Verteilung von Frauen und Männern. Dennoch sind die Lücken in der Chronik der Vorsitzenden nicht zu übersehen. 1992 bis 1996, 1999 bis 2000, 2016 bis 2017 und 2020 bis 2022 fanden sich keine Vorsitzenden, weder Frauen, noch Männer, noch andere Personen.

Diese Vakanzen verweisen darauf, dass die Übernahme von Verantwortung – zumal im Ehrenamt – nicht selbstverständlich ist. Gerade als Vorsitzende oder als Vorsitzender hat man Entscheidungen zu treffen, die nicht den Beifall aller finden. Ein traditionsreicher Sportverein ist nicht immer ein Hort der Harmonie, hier wird diskutiert und gestritten, welcher Weg der Beste für den Verein ist, was der Verein leisten kann und was nicht. Hier trennt man sich, wie 1891 durch die Gründung des Turn- und Fechtclubs Oberstein erfolgt, in den viele Mitglieder des TV 1848 wechselten. Hier fusioniert man wieder, so geschehen im Januar 1924.

Häufig liegt solchen Turbulenzen der Glaube zu Grunde, es besser zu machen, es besser zu können als die im Amt befindlichen Personen. Aus so manchem Untersuchungen wissen wir, dass die Sportvereine am Stärksten sind, denen es gelingt, den Kritikern eine Plattform zu bieten, sie beim Wort zu nehmen und den Tatendrang zur Weiterentwicklung des Vereins zu nutzen. Das gilt auch für junge Menschen, deren Ideen, Engagement und Leidenschaft im Verein Platz finden muss, ohne dass wir Älteren immer schon genau wissen, ob das, was die Jungen da anpacken, nun Richtig oder Falsch ist.

Ein Verein, der auf 175 Jahre zurückblicken kann, ist sicher Weise geworden. Weise angesichts der Vielfalt der täglichen Herausforderungen und Gelassen hinsichtlich vehement vorgetragener Forderungen, was man doch alles anders machen müsse. Wer 175 Jahre auf dem Buckel hat, hat Trends und Moden kommen und gehen sehen, und hat es geschafft, den Kern des Vereins zu bewahren und ihn immer wieder neu zu erfinden.

Dies auch in Auseinandersetzung mit Sportverbänden und politischen Entscheidungsträgern. Die Chronik verzeichnet bereits 1891 einen Zwist mit dem Turngau Nahe-Idartal und sicher schüttelt heute der eine oder der andere auch ab und zu mal mit dem Kopf, beim Gedanken an Sportverbände. Natürlich nicht, wenn man an den Turngau, den Turnverband Mittelrhein oder den Sportbund Rheinland denk. Und wenn: Hier vorn sitzen deren Vertreterinnen und Vertreter, denen man nachher entsprechende Hinweise geben kann, was Sportverbände besser machen sollten.

Das wegweisende Entscheidungen immer ein Haltbarkeitsdatum aufweisen, musste Ihr Verein anhand seiner vereinseigenen Sporthalle schmerzlich erfahren. Einerseits der Mittelpunkt des Vereinslebens und andererseits eine hohe finanzielle und organisatorische Belastung. So klingt der Abschnitt in der Vereinschronik, in dem die Sanierung und der Umbau der Turnhalle zum Stadttheater und die Verpachtung an die Stadt vermerkt ist, wie eine Befreiung. Nicht nur, dass der Chronist vermerkt, dass der Umbau und die Renovierung nur ein halbes Jahr gedauert hätten, er setzt auch noch hinzu: „In der heutigen Zeit undenkbar.“ Und weiter: „Befreit von den Sorgen um den Gebäudeerhalt begann für den TV 1848 Oberstein danach ein neues Zeitalter. Man konnte sich ausschließlich um den Sport kümmern, die eigentliche Aufgabe des Vereins.“ Dies tat Ihr Verein eindrucksvoll, worauf Mitgliederentwicklung, sportliche Erfolge und soziales Engagement in den Folgejahren beredet Zeugnis ablegen.

Eine solche Entwicklung ist jedoch nicht jedem Sportverein in Rheinland-Pfalz vergönnt. Die Beschreibung der Sportstättensituation unterscheidet sich zwischen den rheinland-pfälzischen Sportverbänden und der Landesregierung deutlich, nicht jedes Kind, jeder Jugendlich und jeder Erwachsene haben vergleichbare Möglichkeiten auf eine bewegte und sportliche Lebensgestaltung. Sportstätten sind das Rückgrat für den Schul-, den Vereins- und den unorganisierten Sport und eine Versicherung für ein bewegungsfreundliches Umfeld. Das Sportangebote nicht vom Geldbeutel abhängen und Miteinander quer durch soziale Schichten gestaltet werden kann, dafür stehen die Sportvereine und seit 175 Jahren der TV Oberstein, womit ich im hier und jetzt angekommen bin.

Gerne hätte ich in der Festrede zum damaligen 150jährigen Vereinsjubiläum nachgeschaut, was der damalige Festredner, Prof. Dr. Hans-Walter Wild, Vizepräsident des Rheinischen Turnerbundes und gebürtiger Obersteiner, mit Blick auf die Zukunft den Festgästen mit auf den Weg gab.

Ich möchte es meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin in 25 Jahren etwas erleichtern und meine Festrede mit einem kurzen Rückblick aus dem Jahr 2048 auf dann 200 Jahre TV 1848 Oberstein beenden. Möge der Festredner feststellen:

„Die Jahre 2023 bis 2048 gehörten zu den besten Jahren des TV Oberstein. Die kontinuierliche Arbeit des Vorstandes und in den Abteilungen zogen vielen neue Mitglieder an. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Sportkursen fanden ihren Weg in den TV Oberstein und blieben diesem lange verbunden. Die ehrenamtliche Arbeit wurde Dank des Engagements des Landessportbundes und der Landesregierung entbürokratisiert, die infolge der demografischen Entwicklung gesunkenen Zahl der ehrenamtlich Engagierten wurde durch Digitalisierung und einer modernen Aufgabenverteilung aufgefangen. Der Stadt Idar-Oberstein ist es dank stabiler Steuereinnahmen und mit passgenauen Förderprogrammen von Bund und Land, die in ihrem Volumen kontinuierlich stiegen und die das Gießkannenprinzip früherer Jahre ablösten, gelungen, eine solide und nachfragegerechte Sportinfrastruktur zu schaffen, die es jedem Idar-Obersteiner ermöglicht, den Sport zu treiben, der am Besten zu ihm oder ihr passt. 3 Stunden Sport pro Woche in der Schule sind selbstverständlich. Die Verzahnung zwischen schulischen Ganztag und den Sportvereinen gelang auch deshalb, weil von 25 Jahren in Pilotprojekten der Grundstein für neue Formen der Zusammenarbeit gelegt wurden. Dadurch wurde es in Idar-Oberstein und ganz Rheinland-Pfalz möglich, Kindern einen bewegungs- und sportfreundlichen Alltag anzubieten. Die talentiertesten von ihnen finden mittlerweile wie selbstverständlich den Weg in den Wettkampfsport und den kind- und jugendgerechten Nachwuchsleistungssport.

Idar-Oberstein ist nicht erste seit 2048 eine bewegungs-, sport- und klimafreundliche Stadt für alle, woran der TV 1848 Oberstein einen großen Anteil hat.“

Auch er oder sie wird dann die Festrede mit den Worten beenden: „Ich wünsche dem TV Oberstein für die kommenden Jahre weiter alles Gute, eine dynamische Entwicklung, neue, treue und engagierte Mitglieder in einem Umfeld, welches die Beiträge ihres Vereins zum gesellschaftlichen Zusammenhalt erkennt und anerkennt.“

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!



Share by: